05.09.2022

Zeitenwende für die Saatgutpolitik in Europa

Ein weiterer Anlauf zur Neuauflage einer EU Saatgutverordnung unter schwierigen Vorzeichen. Der Green Deal steht einer erhöhten Lebensmittelnachfrage und Versorgungssicherheit gegenüber.

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird viel von einer “Zeitenwende“ für die internationale und insbesondere die europäische Politik gesprochen und geschrieben. Alte Gewissheiten erscheinen plötzlich weit weniger verlässlich und eine allgemeine Unsicherheit bringt neue Bewegung in bislang stabile politische und wirtschaftliche Beziehungen, aber eben auch in bisweilen wie erstarrt wirkende Diskussionen um den richtigen Weg in die Zukunft. Dies trifft auch für die europäische Agrarpolitik zu und hier auch für die anstehende Debatte zur Neufassung der gesetzlichen Regelungen der Sortenzulassung und des Saatgutverkehrs.

Rückblende

Bereits vor etwas mehr als zehn Jahren hat die Kommission schon einmal versucht das Konvolut von mehr als einem Dutzend Saatgutrichtlinien im Rahmen einer übergreifenden Neuordnung von Pflanzen- und Tiergesundheitsregelungen und deren behördlicher Kontrolle zu verschlanken und zu modernisieren. Nach fast sechs Jahren vorbereitender Konsultationen scheiterte sie kläglich im Europäischen Parlament und zog ihren Vorschlag anschließend im Jahr 2015 offiziell zurück. Grund für den massiven und parteiübergreifenden Widerstand im Parlament war neben mangelhafter Kommunikation und unglücklicher Terminierung (kurz vor dem Ende der Legislaturperiode) der Vorlage durch die Kommission vor allem fehlende Klarheit über den Sinn und Zweck der Initiative. Während der technische und prozedurale Teil der Vorschläge von Mitgliedstaaten ebenso wie von Saatgutbranche und Landwirtschaftsverbänden fast einhellig begrüßt wurden, gab es Skepsis und Ablehnung hinsichtlich der Elemente, die mehr oder minder weitgehende Ausnahmen für bestimmte Produkte, Märkte und Akteure vorsahen. Diese gingen vielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nicht weit genug und wurden andererseits von Züchtern, Händlern und Landwirten breit abgelehnt. Vor allem aber waren diese Elemente erst nach Abschluss der offiziellen Konsultationen in den Entwurf eingearbeitet worden. Dies wurde – berechtigt – als intransparent empfunden, führte aber vor allem dazu, dass es dem Gesamtentwurf nun an klarer und stringenter Zielsetzung und -führung, und damit letztlich auch an Unterstützung der Saatgutindustrie und der Landwirtschaft, mangelte.

Ein neuer Anlauf

Nach Jahren weitgehenden Stillstandes waren es vor allem die Mitgliedstaaten, die die Kommission im Jahr 2019/2020 zur Wiederaufnahme der Initiative gedrängt haben. Dies geschah zuvorderst vor dem Hintergrund einer gewünschten Kostenreduktion und einer Verschlankung und Vereinheitlichung von Verfahren, insbesondere mit den inzwischen neu gefassten Verordnungen zur Pflanzengesundheit und zu offiziellen Kontrollen. Hatte sich die zuständige Abteilung der Kommission zunächst wenig enthusiastisch gezeigt, wurde im Laufe des Jahres 2021 schnell deutlich, dass ein neuer Vorschlag nun ganz im Zeichen des sogenannten „Green Deal“ und der „Farm-to-Fork“- und Biodiversitäts-Strategie stehen sollte, die als übergeordnete politische Leitlinien geradezu unangreifbar schienen.

Das "Green Deal" Mantra und die Kritik

Mantra war eben von Beginn an weit umstrittener, als es sich manche im Rückblick eingestehen wollen. Natürlich werden die grundsätzlichen Ziele, also die stärkere Fokussierung auf Nachhaltigkeit und Erhaltung der Biodiversität, von niemandem grundsätzlich in Frage gestellt. Aber wie dies geschehen soll, und von wem am Ende welcher Preis dafür zu zahlen sein würde, all das war von Beginn an und ist auch heute vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen heftig umstritten.

Verschiedene wissenschaftliche Studien machten sehr schnell deutlich, dass die praktische Umsetzung der konkreten Ziele (Einschränkung von Düngemittel und Pflanzenschutzeinsatz um 30 bzw. 50 %, Herausnahme von 10 % der Produktionsfläche zur Förderung der Artenvielfalt, Ausbau des Ökolandbaus auf einen Gesamtanteil von 30 % der Produktionsfläche) zu massiven Produktionseinbußen und entsprechenden Einkommensrückgängen für die Landwirte führen würde.

 

Gleichzeitig wurde klar, dass die gesteckten Ziele nicht nur nicht erreicht würden, sondern, im Gegenteil, zu negativen Konsequenzen in anderen Teilen der Welt führen würden. Einschränkungen der europäischen Produktion bei bescheidenen positiven Biodiversitätseffekten und minimaler CO2-Reduktion hierzulande, führen fast automatisch zu Flächenausdehnungen in den besonders artenreichen Regionen Südamerikas und Südostasiens. Die erhofften positiven Effekte verpuffen oder werden gar negativ umgekehrt.

Für den Saatgutbereich fokussiert sich die Kommission neben der Idee eines nicht weiter präzisierten „Nachhaltigkeitskriteriums“ für die Sortenzulassung auf den Bereich der Biodiversität und auf Teile des Ökolandbaus, auf sogenannte Erhaltungs- oder Landsorten, und auf das Angebot für private Gärtner und Hobbyanbauer. Auch hier gab es entsprechende Kritik aus der Wissenschaft, von Züchtern und Landwirten, die diese Ausrichtung für verfehlt halten und als am tatsächlichen Markt und den Bedürfnissen der Saatgutnutzer vorbeigeplant ansehen.

All dies war also schon zu Friedenszeiten hochumstritten; vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine und der massiven Auswirkungen dieser zwei Agrarexportnationen auf die
internationalen Märkte, mit allen Folgen für die politische Stabilität weltweit, muss nun zwingend eine Neubewertung und Neuausrichtung erfolgen. Dabei geht es, wohlgemerkt, nicht um eine Abkehr vom Ziel der Nachhaltigkeit! Aber es muss deutlicher werden, welchen Beitrag Europa weltweit leisten kann und leisten will, wenn es um die Erreichung dieses Zieles geht.

Wie geht es nun weiter?

Die offiziellen Konsultationen betroffener Interessensgruppen und Behörden ebenso wie der interessierten Öffentlichkeit sind mittlerweile abgeschlossen. Auf der Grundlage des Berichts des beauftragten Beraters wird nun der konkrete Gesetzesentwurf erarbeitet und soll zum Ende des Jahres offiziell den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament vorgelegt werden. Damit bleiben den Gesetzgebern knapp 15 Monate, um das Verfahren vor Ende der Legislaturperiode des Europäischen Parlaments und vor Ende der Amtszeit dieser Kommission zum Abschluss zu bringen. Doch lehrt der Blick auf die Diskussionen der Vergangenheit und insbesondere auf die Historie des Saatgutrechts, dass es sich hier um einen mittlerweile hochpolitisierten Bereich handelt, den einige NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen für sich als effektiven Hebel für eine grundsätzliche Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik definiert haben. Auch wird gerade bei Saatgutfragen gern fundamentale Antikapitalismuskritik vorgebracht und das Bild eines Oligopols weltweit dominierender Konzerne mit ungesundem Einfluss auf unsere Lebensmittel gezeichnet. Es dürfte also weit schwerer werden eine Einigung zu erzielen, als dies eigentlich nötig wäre. Denn viele Lösungen liegen im Grunde klar auf der Hand.

Elemente einer zukunftsorientierten Saatgutpolitik

Die europäischen Saatgutregelungen haben zuvorderst die Aufgabe die Entwicklung von immer besseren Sorten und qualitativ hochwertigen Saatguts zum Nutzen der Landwirte und Gemüseanbauer zu befördern und sicherzustellen. Die gültigen Parameter hier lauten nach wie vor Identität (welche Sorte kaufe ich und wer ist für das Produkt verantwortlich?), Leistung (was leistet diese Sorte im Feld?), Qualität (welche Qualität hat das Saatgut, also Keimfähigkeit, Sortenreinheit etc.), und ist das Saatgut „gesund“, also frei von Krankheiten. Dazu sind im EU Binnenmarkt gemeinsame Verfahren und Standards notwendig. Diese gilt es daher beizubehalten und, wo nötig oder gewünscht, weiter zu entwickeln. Bisher nutzt die EU hierfür häufig sogenannte „temporäre Experimente“, mit denen neue technisch-biologische Verfahren oder Standards auf ihre Validität und praktischen Nutzen geprüft werden, bevor ein entsprechender Grundsatzbeschluss gefasst wird. Sicher nicht zielführend ist die Aufnahme eines undefinierten, nur vage geforderten „Nachhaltigkeitsanspruchs“, der große Erwartungen schürt, die sich dann im Einzelfall aber als weder überprüf- noch messbar erweisen. Nachhaltigkeitsbeurteilungen sind hochkomplex und lassen sich fast nie an Einzelparametern erfassen und bewerten.

Deutliche Verbesserungsmöglichkeiten gibt es dagegen ganz sicher im Bereich der Informationsbereitstellung für die Nutzer von Saatgut, gerade auch zur Unterstützung der Nachhaltigkeitsausrichtung der Agrarpolitik. Informationen zu Krankheitsresistenzen, Kälte- oder Trockentoleranzen und viele andere mehr, die von Züchtern im Laufe der Sortenentwicklung systematisch erfasst werden und zum Teil ja auch in die offiziellen Sortenprüfungen eingehen, lassen sich mit moderner Informationstechnologie weit schneller und nutzerfreundlicher zur Verfügung stellen, als dies heute geschieht. Nachhaltigkeitsentscheidungen von Landwirten und Gemüseanbauern besser zu ermöglichen und zu befördern sollte ein unstrittiges Ziel der Reform sein. Für Nischenmärkte und spezifisches Material, wie etwa Land- oder Erhaltungssorten, sind bereits angepasste Regelungen entwickelt worden; diese können dort angepasst werden, wo sie sich als unzureichend oder als zu kompliziert erwiesen haben. Gleiches gilt für den Bereich des Amateur- oder Hobbymarktes. Im Großen und Ganzen scheint es hier jedoch nicht um die Behebung eines tatsächlichen Marktversagen zu gehen, denn dafür fehlt es an entsprechenden Hinweisen von Nutzern, die sich über mangelnde Auswahl oder Qualität beklagen, sondern vielmehr um ein Wahrnehmungsproblem, denn auch Hobbygärtner haben den berechtigten Anspruch hochwertiges Saatgut zu erwerben, das frei von Krankheiten ist und ihre Erwartungen hinsichtlich Anbau und späterer (Lebensmittel-) Nutzung erfüllt.

Fazit

Das EU-Saatgutrecht könnte eine Modernisierung und Harmonisierung vertragen. Aber es muss weiter die Aufgabe haben, den gemeinsamen Saatgutmarkt und den fairen Wettbewerb in diesem Markt in geeigneter Form sicherzustellen. Weitergehende politische Ziele, wie zum Beispiel die Erhaltung und nachhaltige Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen, können pragmatisch und zielorientiert mit geeigneten Sonderregelungen und technischen Standards ermöglicht und gefördert werden. Die Grundausrichtung des erfolgreichen EU-Saatgutsystems auf Wettbewerbsfähigkeit und Ressourceneffizienz und damit schlussendlich auf Versorgungssicherheit dürfen sie jedoch weder beschädigen noch in Frage stellen. Sie sind heute, nach der Zeitenwende, wichtiger denn je.

DI Agr. Garlich von Essen
Secretary General
Euroseeds